Wahlprüfsteine zur Bundestagswahl 2021

05.09.2021

Der neu gegründete Verband der Gedenkstätten in Deutschland e.V. – Forum der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und –initiativen, Arbeitsgemeinschaften und Dokumentationszentren (VGDF) versteht sich als Interessenvertretung gegenüber Politik, Medien und Wirtschaft. Ziel ist es, die eigene Professionalität und Vernetzung zu fördern, aber auch zu einer verbesserten öffentlichen Wahrnehmung zu gelangen.

Im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahl 2021 wurden die kulturpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen im Deutschen Bundestag um eine
schriftliche Stellungnahme zu den Erwartungen und Positionen des Gedenkstättenverbands gebeten. Folgende Erwartungen an den Deutschen Bundestag wurden formuliert:

  1. Weiterentwicklung der „Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ als maßgebliches Förderinstrument der Bundespolitik. Eine brauchbare Evaluation steht immer noch aus. 13 Jahre nach der Verabschiedung der letzten Fassung im Jahre 2008 ist es Zeit für eine gründliche Bilanz, um die Erfolge des Förderinstruments anzuerkennen, aber auch Defizite und Entwicklungshindernisse zu benennen. Es gilt, auf dieser Basis die Gedenkstättenkonzeption weiterzuentwickeln, sodass sie der dezentralen Gedenkstättenlandschaft Rechnung trägt.

  2. Fortschreibung des Förderprogramms „Jugend erinnert“ zur Unterstützung innovativer Projekte einer nachhaltigen Kultur des Erinnerns, die auch der Arbeit kleinerer Gedenkstätten und Initiativen zugutekommt.

  3. Stärkung der bundesweiten Kooperations- und Vernetzungsstrukturen durch den Aufbau und die Förderung einer VGDF-Geschäftsstelle sowie durch die Sicherung und Weiterentwicklung des Gedenkstättenreferats in der Stiftung Topographie des Terrors zur Koordination und Beratung der Gedenkstätten in Deutschland, auch durch Ausbau digitaler Formate und Fortbildungsangebote.


Die kulturpoltischen Sprecherinnen und Sprecher der SPD, FDP, von Bündnis 90/Die Grünen sowie Die Linke haben auf den Aufruf geantwortet. Im Folgenden werden ihre Stellungnahmen zusammengefasst. Die kompletten Antworten der Sprecherinnen und Sprecher werden in getrennten Dateien angefügt.

1. Weiterentwicklung der „Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ als maßgebliches Förderinstrument der Bundesrepublik

SPD, Marianne Schieder: Selbstverständlich machen eine Weiterentwicklung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes und eine brauchbare Evaluation nach 13 Jahren Sinn. Gleichwohl muss sehr darauf geachtet werden, dass dabei die NS-Gedenkstättenarbeit nicht das Nachsehen gegenüber den Bemühungen die SED-Diktatur und die leidvollen Folgen des kommunistischen Systems aufzuarbeiten, bekommt.

Die LINKE fordert eine umfassende wissenschaftliche und praktische Evaluation der bisherigen Gedenkstättenkonzeption. In dieser 19 WP wurde deutlich, dass die Gedenkstättenkonzeption sowohl finanzielle als auch inhaltliche Leerstellen aufweist, die sich auf die Erinnerungsarbeit auswirkt. Dies betrifft nicht nur die Bemühung um eine Erweiterung des Gedenkstättenkonzeptes und Anerkennung bislang nicht anerkannter Verfolgtengruppen im NS, wie als Asoziale und Berufsverbrecher im NS Verfolgten, auch Themenkomplexe wie die Rehabilitation der Opfer der sog. Polenstrafrechtsverordnung. Bei der Errichtung einer "Dokumentationsstätte zur Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft" besteht die Gefahr, dass die bislang anerkannte und in den Empfehlungen der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages in den 1990er Jahren als wertvoll anerkannte dezentrale Erinnerungskultur im Ergebnis geschwächt wird und die zunehmende Tendenz zur Zentralisierung der Erinnerung an den NS in Berlin verstärkt wird.

Bündnis 90/Die Grünen, Erhard Grundl: Die Weiterentwicklung der „Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ ist dringend erforderlich, ebenso wie eine grundlegende Evaluation. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD wurde „die Weiterentwicklung auf neue Akzentsetzungen und die Optimierung der Förderpraxis auf der Grundlage der geltenden Konzeption“ zwar angekündigt. Doch dabei blieb es.

Tatsächlich gibt es reichlich Reformbedarf: Zum einen angesichts der stetigen Zunahme von rechtsextremistischen Gewalttaten. Laut Verfassungsschutz ist die Zahl „im Jahr 2020 um rund 10 % gegenüber dem Vorjahr“ gestiegen. Wenn Führungspersonen einer im Deutschen Bundestag vertretenen Partei den Holocaust als „Vogelschiss“ bezeichnen, wenn das Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus als „Schuldkult” diffamiert wird und Begriffe aus dem Nationalsozialismus wie „völkisch“ oder „entartet” bewusst und ohne jede Scham verwendet werden, dann geht es darum, „die Grenzen des Sagbaren schrittweise zu verschieben und damit unser Fundament des „Nie wieder!“ anzugreifen“, wie wir in unserem Weimarer Fraktionsbeschluss schreiben. Wir nehmen diese Entwicklung sehr ernst.

Die Anschläge auf Synagogen von Halle 2019 und im Juni 2021 von Ulm, aber auch die zunehmenden antisemitischen Übergriffe auf Einzelpersonen sprechen eine erschreckend deutliche Sprache. Wenn sich Jüdinnen und Juden in Deutschland
nicht mehr unbedingt und selbstverständlich sicher fühlen, dann müssen wir fragen, wo Defizite unserer Erinnerungskultur liegen.

Gleichzeitig geht die Ära der Zeitzeugen zu Ende. Wir werden uns künftig nicht mehr auf die Autorität derer verlassen, die wie Noah Klieger sagen konnten „Es war so. Ich war dabei“. Das aufzufangen wird eine große Aufgabe für die Gedenkstätten sein. Dafür müssen sie personell und finanziell gestärkt werden.

Zudem gilt es, die Leerstellen in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu schließen und die Gedenkstättenkonzeption in Hinblick auf bisher wenig beachtete Opfergruppen zeitnah weiterzuentwickeln. (s. Antrag „Anerkennung der NS-Opfergruppen der damals sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher““, Drs. 19/23161)

Auch bezogen auf die Opfer der NS-„Euthanasie“ und die Opfer von Zwangssterilisation, deren vollständige Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes immer noch aussteht, gibt es nach wie vor Wissenslücken, die mit Hilfe der Gedenkstätten geschlossen werden könnten. Wir wollen daher die Gedenkstättenkonzeption des Bundes beispielsweise in Kooperation mit lokalen Gedenkstätten wie z.B. Brandenburg und Pirna-Sonnenstein in Hinblick auf neuere Forschung und weitere Opfergruppen zeitnah weiterentwickeln (s. Antrag „NS-Euthanasie-Morde und Zwangssterilisation – Nachgeschichte erforschen“, Drs. 19/28824).

FDP, Thomas Hacker: Aus erinnerungskultureller Perspektive hat die Weiterentwicklung des Gedenkstättenkonzepts die höchste Priorität, denn mit einem Alter von nunmehr 13 Jahren ist das aus 2008 stammende Konzept selbst Teil der Erinnerungskultur anstatt diese aktiv zu gestalten. Das Konzept lässt daher nicht nur technische Neuerungen und Selbstverständlichkeiten wie das Internet außen vor, es erfasst auch nicht neue gesellschaftliche Strömungen und Herausforderungen wie Migration, Me Too, BlackLivesMatter oder zunehmenden Extremismus und Nationalismus. Ebenso sind auch Veränderungen in der Gedenkstättenlandschaft selbst nicht erfasst. Wir sind daher fest davon überzeugt, dass es ein neues, modernes Gedenkstättenkonzept des Bundes braucht, welches Digitalisierung, moderne Vermittlungsmethoden und größere Synergieeffekte im Bereich von Lehre, Wissenschaft und Forschung in den Mittelpunkt stellt. Gleichwohl muss das Konzept auch das mannigfaltige zivilgesellschaftliche Engagement berücksichtigen, welches die vielen großen, mittleren und kleinen Gedenkstätten und Orte der Erinnerung am Leben erhalten.

2. Fortschreibung des Förderprogramms „Jugend erinnert“

SPD, Marianne Schieder: So sehr ich das Anliegen vieler dezentraler Gedenkstätten verstehe, muss ich darauf hinweisen, dass die Kulturhoheit bei den Ländern liegt und Gedenkstätten nur bei bundesweiter Bedeutung eine institutionelle Förderung des Bundes erhalten können. Ansonsten kann der Bund nur über Projektfördermittel (wie auch derzeit) tätig werden.
Das Programm „Jugend erinnert“ wurde von der SPD und vor allem von mir persönlich stets unterstützt und im Ergebnis auf den Weg gebracht. Die SPD steht zur Fortschreibung, ja sogar zu einer Erhöhung der Fördermittel, da wir um die grundsätzliche Bedeutung des Programms wissen.

DIE LINKE bemüht sich neben den großen bundesgeförderten Gedenkstätten um eine strukturelle Unterstützung kleinerer Gedenkstätten und Initiativen. Diese müssen u.a. stärker in Förderprogrammen wie "Jugend erinnert" berücksichtigt und auskömmlich ausgestattet werden. Dabei lässt sich feststellen, dass es zunehmend die Tendenz gibt, dass die bislang anerkannte und in den Empfehlungen der entsprechenden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages in den 1990er Jahren als wertvoll anerkannte dezentrale Erinnerungskultur im Ergebnis durch groß angelegte erinnerungspolitische Projekte, die außerhalb der Gedenkstättenkonzeption angelegt werden (z.B. die geplante "Dokumentationsstätte zur Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft") geschwächt wird (vgl. Brigitte Freihold, BT-Drs. 19/26778, https://dserver.bundestag.de/btd/19/267/1926778.pdf).

Bündnis 90/Die Grünen, Erhard Grundl: Bereits 2014 hatte die Kultusministerkonferenz in ihrem Beschluss darauf hingewiesen, wie wichtig außerschulische Lern- und Gedenkorte sind, um Jugendliche anzusprechen und für Geschichte und Erinnerungskultur zu interessieren. „Die Kooperation mit Schulen und Projekten, die Geschichte erfahrbar machen, muss stärker gefördert werden.“, betonte die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder im Kultusministerkonferenz-Beschluss „Erinnern für die Zukunft. Sie empfiehlt auch eine Vertiefung der Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung in der Schule“ (Dezember 2014).

Wir wollen die Weiterentwicklung der pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeit der Gedenkstätten fördern, heißt es hierzu in unserem Wahlprogramm (S. 208). Denn jede Generation hat eigene Fragen an die Geschichte. Gerade auch Menschen, die hierher eingewandert sind, bringen ihre Migrationsgeschichte und vielfach eigene Erfahrungen mit Verfolgung und Flucht mit. Das Gedenkstättenkonzept muss vor diesem Hintergrund weiterentwickelt werden (Wahlprogramm, S. 209).

Entscheidend für die Zukunft der Erinnerungskultur ist es, dezentrale Vermittlungsorte im Lebensumfeld zu fördern und Jugendliche durch neue, multiperspektivische Bildungsangebote anzusprechen. Diese Angebote sollten auf Dialog und Partizipation setzen. Wir brauchen deshalb eine neue Ansprache und neue Instrumente, damit diese Themen auch denjenigen Schülerinnen und Schülern vermittelt werden können, die zwar aufgrund ihrer eigenen Migrationsgeschichte keinen unmittelbar familiär-historischen Bezug zur deutschen Historie haben, dafür aber selber ihre eigenen geschichtlichen Erfahrungen „im Gepäck“ mitbringen – oder die ihrer Eltern und/oder Großeltern. In unseren Haushaltsanträgen haben wir daher immer wieder eine Stärkung des Programms im Rahmen der Gedenkstättenförderung gefordert.

FDP, Thomas Hacker: Das Förderprogramm „Jugend erinnert“ kann zweifelsohne ein zielführendes Programm in der Jugend- und Bildungsarbeit in Gedenkstätten und Dokumentationszentren sein. Aus Sicht der Freien Demokraten muss jedoch die
Projektförderung als solche kritisch hinterfragt werden. Wie nachhaltig, wie hochwertig ist ein solches Programm? Hier sehen wir viel Potenzial. Darüber hinaus gibt es bereits die wichtige institutionelle Förderung von bundesgeförderten Gedenkstätten und Dokumentationszentren. Wir glauben, dass die Ertüchtigung dieser Einrichtungen durch eine erhöhte institutionelle Förderung deutlich verbessert werden kann. Die bereits bestehenden Projekte müssten ausgebaut, besser koordiniert und in einem vernetzten Vermittlungsansatz überführt werden. Nur so kann qualitativ hochwertige Vermittlungsarbeit einerseits und ein Mehrwert an Lehre, Wissenschaft und Forschung andererseits dauerhaft sichergestellt werden. Eine reine Projektförderung kann dies nicht leisten.

3. Stärkung der bundesweiten Kooperations- und Vernetzungsstrukturen

SPD, Marianne Schieder: Die Stärkung der bundesweiten Kooperations- und Vernetzungsstrukturen und auch die Weiterentwicklung des Gedenkstättenreferats in der Stiftung Topographie des Terrors wurde von der SPD-Bundestagsfraktion bei jeder Haushaltsverhandlung mit Nachdruck gefordert, ist aber immer am Widerstand des „Apparats“ bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gescheitert. Deshalb geht es im Rahmen einer Weichenstellung für die kommenden Jahre und bei der Frage, welche Regierung unser Land künftig führen wird auch darum, welche Schwerpunkte künftig auf der Kulturarbeit des Bundes liegen.

DIE LINKE bemüht sich, die Geschäftsstelle des Verband der Gedenkstätten in Deutschland e.V. / FORUM (VGDF) sowie die Sicherung und Weiterentwicklung des Gedenkstättenreferats in der Stiftung Topographie des Terrors zur Koordination und Beratung der Gedenkstätten in Deutschland zu stärken. Schon 2018 fehlte die so dringend notwendige Aufstockung der Mittel für die NS-Gedenkstätten und die Gedenkstättenkonzeption und in den Folgejahren waren keine wesentlichen Verbesserungen zu erkennen. Das ist fatal angesichts des aktuellen politischen Klimas in der Bundesrepublik. Auch der Ausbau digitaler Formate und Fortbildungsangebote ist zu stärken und auskömmlich auszustatten. Die Gedenkstättenpädagogik muss im digitalen Zeitalter neue didaktische Konzepte entwickeln, die auch an unsere divers-kulturelle Gesellschaft angepasst sind.

Bündnis 90/Die Grünen, Erhard Grundl:
Die Stärkung bundesweiter Vernetzungsstrukturen ist sehr sinnvoll und die Weiterentwicklung des Gedenkstättenreferats in der Stiftung Topographie des Terrors befürworten wir. Wichtig ist es aber zugleich, die Unabhängigkeit der Gedenkstätten zu betonen, in dem Sinn wie es der Historiker Detlev Garbe (bis 2019 Leiter der Gedenkstätte Neuengamme) formulierte, der davor warnte die Gedenkstätten „einer zu stark dirigistischen Steuerung durch Politik und Verwaltung“ auszusetzen. Er betonte, dass die „Grundlinien der Gedenkstättenkonzeption, die Dezentralität, die Kreativität und Unabhängigkeit der Gedenkstätten“ gestärkt und gewahrt werden sollten. Es ist wichtig, die Authentizität und Besonderheit der Orte zu betonen und Gebäude und Gelände zu erhalten bzw. zu erschließen. Denn jede Gedenkstätte hat eine eigene Geschichte zu erzählen. „Verlieren Gedenkstätten ihre Anstößigkeit, sind sie als Lernorte nicht zukunftsfähig, denn ihre Aufgabe besteht darin, das Verstörende, das
von den historischen Orten und ihrer Geschichte ausgeht, wach zu halten. Sonst steht zu befürchten, dass mit den Erfolgen der Gedenkstättenentwicklung deren praktische Folgenlosigkeit einhergeht“, so Professor Garbe weiter (s. Gedenkstättenrundbrief 6/2016).

FDP, Thomas Hacker: Den Ansatz einer starken bundesweiten Kooperations- und Vernetzungsstruktur unterstützen wir ausdrücklich. Wir Freien Demokraten sind der Meinung, dass gerade auch im erinnerungskulturellen Bereich heute noch Fortschritte erzielt werden können. Viele neue Erkenntnisse können erst durch Austausch, offenen Diskurs, transparente Wissenschaft und Forschung stattfinden. Es ist richtig und notwendig, die vielen losen Enden zu verbinden, Synergieeffekte zu nutzen und alle Einrichtungen zu befähigen, zivilgesellschaftliches Engagement mit Forschung und Vermittlungsarbeit zu verbinden. Gerade die Herausforderungen des letzten Jahres unter Pandemiebedingungen haben deutlich gezeigt, welche Chancen in der Digitalisierung und einer vernetzten Erinnerungslandschaft stecken können.

Antworten der Fraktionen

SPD
Marianne Schieder

DIE LINKE

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erhard Grundl

FDP
Thomas Hacker